Erscheinungsdatum: 02.12.2013

Prof. Dr. Anna Wittmann von der Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit stellt Forschungsergebnisse vor

„Betroffene Kinder brauchen Erwachsene, die einiges aushalten, sie brauchen gestandene Menschen“, zitiert Prof. Dr. Anna Wittmann von der Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit eine in ihrem Forschungsprojekt interviewte Expertin auf der HAWK-Fachtagung „Kinder mit sexuellen Missbrauchserfahrungen in Kindertagesstätten“. Vor 125 Teilnehmenden aus Kindertagesstätten der Stadt und des Landkreises Hildesheim, aus Fachschulen für die Erzieher/innen-Ausbildung und der HAWK stellte sie gemeinsam mit Diplom-Sozialpädagogin M.A. Julia Gebrande die Ergebnisse der Bedarfsanalyse des Forschungsprojekts „KiMsta - Kinder mit sexuellen Missbrauchserfahrungen stabilisieren“ erstmalig öffentlich vor.

Zunächst seien 18 Interviews mit Expertinnen und Experten des Kinderschutzes durchgeführt worden zu zentralen Fragen wie „Welche Unterstützung benötigen Kinder nach sexuellen Missbrauchserfahrungen?“, „Wie werden pädagogische Fachkräfte zu kompetenten Ansprechpartner/inne/n für die Kinder?“ oder „Was müssten Fachkräfte in Aus- oder Weiterbildung dazu lernen?“.

Anschließend schickte das Forschungsteam an alle pädagogischen Mitarbeiter/innen der Kindertagesstätten und Einrichtungen der Jugendhilfe der Stadt und des Landkreises Hildesheim einen zehnseitigen Fragebogen u.a. zur Selbsteinschätzung der eigenen Kompetenzen in Bezug auf das Thema „sexueller Missbrauch“. Über 700 Befragte antworteten zu den Schwerpunkten “vorhandenes Wissen“, „Einschätzung von kritischen Situationen“ sowie „Wünsche und Interessen zur Aus- und Weiterbildung in diesem Bereich“ – ein mit fast 50 Prozent Beteiligung hoher Rücklauf.

In der Literatur werden häufig Untersuchungen der Forscherin Cécile Ernst zitiert, die angibt, dass im deutschen Sprachraum zehn bis 15 Prozent aller Mädchen und fünf Prozent aller Jungen bis zu einem Alter von 14 beziehungsweise 16 Jahren mindestens einen sexuellen Übergriff mit Körperkontakt erleben. In den Fragebögen gab ein Fünftel an, dass ein Fall vor Ort bekannt sei.

Prof. Dr. Anna Wittmann arbeitete von 2001 bis 2009 als Psychologin bei Wildwasser Magdeburg e.V., einer Beratungsstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt. Dort stellte sie fest, dass immer wieder pädagogische Fachkräfte missbrauchte Kinder zur Beratung brachten und froh waren, dass sich nun andere darum kümmerten. „Dahinter zeigte sich die Einstellung: ´mir macht das Angst und ich weiß nicht, wie ich mit dem Thema umgehen soll´“, so Wittmann. Um betroffene Kinder auch in ihrem Alltag angemessen unterstützen zu können, bräuchten pädagogische Fachkräfte spezifisches Wissen über sexualisierte Gewalt und mögliche Folgen wie beispielsweise Trauma-Symptome sowie bestimmte Handlungskompetenzen für den pädagogischen Umgang damit. Nachdem Wittmann 2009 an die HAWK zur Professorin für Psychologie und Soziale Arbeit berufen wurde, wollte sie dem Thema genauer nachgehen und startete 2010 das Forschungsprojekt.

Die Bedarfsanalyse bestätigte ihren Eindruck, dass sich die meisten der Befragten nicht für den Umgang mit Kindern, die sexuellen Missbrauch erlebt haben, vorbereitet fühlen. Angst und Überforderung kennzeichneten die Rückmeldungen. „62 Prozent der Befragten bräuchten in so einem Fall Unterstützung von außen. 57 Prozent haben große Angst, etwas falsch zu machen. 54 Prozent haben Berührungsängste mit dem Thema und 52 Prozent wissen nur sehr wenig darüber, wie man einem betroffenen Kind im pädagogischen Alltag helfen kann“, zählte Wittmann einige Ergebnisse auf.

Bei den gewünschten Fortbildungsthemen stand die Schulung für eine Gesprächsführung mit dem Kind auf Platz eins, gefolgt von dem Wunsch, Methoden der Trauma-Pädagogik zu erlernen sowie das eigene Fachwissen zu sexuellem Missbrauch zu erweitern.

„Die Kinder sollten in erster Linie nicht als Opfer, sondern als ganz normale Kinder wahrgenommen werden. Es ist wichtig, ihr Selbstbewusstsein zu stärken, ihre Körperwahrnehmung zu verbessern und ihnen zu helfen, sich wieder sicher zu fühlen.“, so Wittmann. Notwendig seien v.a. korrigierende Beziehungserfahrungen, weil Missbrauch häufig im nahestehenden Umfeld vorkomme.

Die Forschungsergebnisse fließen jetzt an der HAWK in ein viertägiges Weiterbildungsangebot für pädagogische Fachkräfte ein, das im Herbst 2014 startet.

HAWK Weiterbildungsprogramm

Begonnen hatte die eintägige Tagung „Kinder mit sexuellen Missbrauchserfahrungen in Kindertagesstätten“ mit einem Vortrag von Prof. Dr. Jörg Maywald, Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind, zum Thema „Sexualpädagogik in der Kita“. Der Vortrag zeigte auf, wie die Rechte der Kinder auf sexuelle Bildung und der Schutz vor Missbrauch am besten gewährleistet werden können. Pia Zeiher vom Präventionsbüro Petze e.V. stellte die Möglichkeiten der Prävention in der Kindertagesstätte vor. Wenn Heimlichkeiten unheimlich werden, ist es besser, sich jemandem mitzuteilen, so eines der sechs kindgerechten Präventionsprinzipien, die sie mit alltagsnahen Beispielen und Übungen für die Kindertagesstätte anreicherte. Sonja Blattmann und Karin Derks vom MuT (Musik und Theater für kleine und große Menschen)-Zentrum demonstrierten Methoden, mit deren Hilfe sich Kinder singend und spielend ihren Gefühlen, Grenzen und den Kinderrechten nähern können.


Mit der großen „Nein“-Tonne zeigte die theaterpädagogische Werkstatt Osnabrück, dass nicht alles, was ein „Nein-Gefühl“ auslöst, auch in die Nein-Tonne gehört, wie das Zähne putzen, Regeln oder Bettgehzeiten. „Kinder wissen sehr gut, was Grenzüberschreitungen sind und was gut für sie ist“, so Theaterpädagoge Stefan Beckmann in der anschließenden Gesprächsrunde. Mutproben, ein zudringlicher Onkel und andere Situationen, in denen das Recht auf körperliche Selbstbestimmung verletzt wird, landeten jedenfalls immer in der großen, grünen Tonne.


Nähere Informationen zu der Weiterbildung und zum Forschungsprojekt unter Tel.: 05121/881-516 oder wittmann@hawk-hhg.de

Prof. Dr. Anna Wittmann von der Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit stellt Forschungsergebnisse vor Prof. Dr. Anna Wittmann (r.) und Sozialpädagogin Julia Gebrande stellen ihre Forschungsergebnis Prof. Dr. Anna Wittmann (r.) und Sozialpädagogin Julia Gebrande stellen ihre Forschungsergebnis