Erscheinungsdatum: 29.11.2007

Gemeinsame Forschung des HAWK-Fachbereichs Konservierung und Restaurierung und der Dombibliothek fördert historisches Detail zutage /Sensation in Fachkreisen

In Fachkreisen ist es eine Sensation, was Verwaltungsprofessorin Dr. Patricia Engel vom Fachbereich Konservierung und Restaurierung der HAWK und der Altphilologe und Handschriftenbibliothekar von der Hildesheimer Dombibliothek, Dr. Bernhard Gallistl, entdeckt haben: Die kostbare Reichenauer Handschrift aus dem frühen 11. Jahrhundert, die die Dombibliothek ihr eigen nennt, muss in derselben Werkstatt gebunden worden sein, wie eine Handschrift aus der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Diese Entdeckung ist deshalb so bemerkenswert, weil die Geschichte dieser berühmten Handschriften wissenschaftlich bisher nicht en Détail rekonstruiert werden konnte.

Das Kloster Reichenau war ein Benediktinerkloster auf der Insel Reichenau im Bodensee. Es wurde 724 gegründet und war ab 1540 Priorat des Konstanzer Bischofs. Es zählt neben St. Gallen und Fulda zu den bedeutendsten Klöstern der karolingischen Zeit. Speziell durch die Manuskripte aus dem 10. und 11. Jahrhundert, die in herausragender Weise die ottonische Buchmalerei Deutschlands repräsentieren, hat das Kloster eine weitreichende Bekanntheit erreicht.

Die Reichenauer Handschriften werden heute in großen deutschen Bibliotheken und Sammlungen aufbewahrt, viele in München und Bamberg, wegen der Nähe zur Geschichte der Ottonen und vor allem Otto III und Heinrich II im Zusammenhang mit ihrer Idee der "renovatio imperii Romanorum" – das römische Reich zu erneuern. Die Handschriften sind so wertvoll, weil sie von herausragender künstlerischer Qualität sind.
Bis heute treibt Forscher allerdings die Frage um, wann und wie genau diese Kunstwerke entstanden sind. Bei frühmittelalterlichen Handschriften können zwar so genannte Schulen eingegrenzt werden, aber wo die Bücher letztlich wirklich gebunden wurden ist meist nicht nachweisbar.

Bei der Buchmalerei der Hildesheimer Handschrift steht fest, dass sie aus dem Kloster Reichenau am Bodensee stammt. Wo und wann die Handschrift aber gebunden wurde, war bisher unklar. Dr. Patricia Engel von der HAWK und Dr. Bernhard Gallistl von der Dombibliothek konnten das Geheimnis jetzt zumindest ein Fünkchen mehr lüften: Sie fanden heraus, dass die Makulatur – die beim Buchbinden verwendeten Umschlagblätter – der beiden Reichenauer Handschriften aus Hildesheim und Wolfenbüttel aus dem selben Produktionsprozess stammen. „Damit lässt sich ein unmittelbarer Werkstattzusammenhang belegen, der so für die beiden Handschriften noch nie bewiesen wurde“, schildert Restauratorin Patricia Engel. Möglich sei diese Erkenntnis nur durch die seit Jahren gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Bibliothek und Fachbereich geworden und, so Engel, weil das Wissen zweier Disziplinen sich ergänzt habe: „Der eine kann den Text ohne Hindernisse lesen und ist in den Inhalten sattelfest. Die andere versteht das Material zutiefst und kennt sich in historischen Buchbindetechniken aus.“ Gallistl: „Erst zusammen konnten wir herausfinden, was tausend Jahre niemand gesehen hat.“

Insgesamt sind rund vierzig Handschriften erhalten, die zu den Reichenauer Handschriften gezählt werden. Sie gehören zu den kostbarsten frühmittelalterlichen Kunstschätzen Europas. Zehn von ihnen wurden 2003 in die Liste des „Memory of the World“ aufgenommen. Die meisten sind gebunden. Sollte die ursprüngliche Bindung verloren gegangen sein, sind sie im Laufe der Jahrhunderte immer wieder neu gebunden worden, denn man wusste zu schätzen, dass sie eben so schön und kostbar sind. Die Hildesheimer Handschrift hat nach Ansicht von Patricia Engel ziemlich wahrscheinlich noch ihre Originaldeckel, zumindest die Bretter, aus denen der Einband hergestellt wurde. „Auch das haben wir auf Grund so genannter dendrochronologischer Untersuchungen nachweisen können. Das Alter stimmt: Fälldatum der Bäume war um 1000 n. Chr., was Prof. Dr. Peter Klein von der HAWK ermittelt hat."
Engel und Gallistl haben ihre Forschungsergebnisse jetzt auf einer internationalen Tagung vorgestellt.

Gemeinsame Forschung des HAWK-Fachbereichs Konservierung und Restaurierung und der Dombibliothek fördert historisches Detail zutage /Sensation in Fachkreisen Verwaltungsprof. Dr. Patricia Engel vom Fachbereich Konservierung und Restaurierung (rechts) und der Verwaltungsprof. Dr. Patricia Engel vom Fachbereich Konservierung und Restaurierung (rechts) und der