Internationale Tagung an der HAWK macht auf besonderes Kulturgut aufmerksam

Publizierungsdatum: 15.03.2018

Ein Abbild vom Hildesheimer Stadtkern ziert die Fassade der Volkshochschule. In verschiede Putzschichten, die sich farblich unterscheiden, ist der Umriss der Stadt vor der Zerstörung 1945 gekratzt. Dabei handelt es sich um die sogenannte Sgrafitto-Technik, abgeleitet von dem italienischen Verb „sgraffiare“ oder „graffiare“, was auf Deutsch „kratzen“ bedeutet. Es ist eines der 54 Sgrafitti in Hildesheim, sieben davon stehen unter Denkmalschutz. Jetzt hat die HAWK dieses Motiv auf weiße Schokolade gedruckt. Anlass dafür war die erste internationale Sgrafitto-Tagung in Kooperation mit dem Nieder

125 Teilnehmende aus zwölf Ländern tauschten sich zwei Tage lang an der Hochschule zu Materialien, Techniken, Themen und Erhaltungsoptionen aus, pünktlich zum 30. Geburtstag der Studienrichtung Wandmalerei.

 

Bei einem ergänzenden Workshop konnten die Teilnehmenden in der HAWK-Werkstatt der Fakultät Bauen und Erhalten für den Bereich Konservierung und Restaurierung dann auch ganz praktische Erfahrung bei der Herstellung von eigenen Sgraffiti machen. Für die Referentinnen und Referenten gab es als Mitbringsel von der HAWK das Hildesheimer Sgrafitti „to go“.   

„Eines der Ergebnisse dieser Tagung ist, dass das Sgrafitto gar nicht so eng in eine Schublade gepackt werden soll. Es sind in Putz eingekratzte Bilder, manchmal bestehen sie aus mehrlagigen Putzen, wo dann je nach Motiv unterschiedliche Farben und Schichten freigelegt werden“, erläutert Organisatorin Dr. Angela Weyer vom Hornemann Institut der HAWK. Durch Wärmedämmung, mangelnde Wertschätzung und Übermalungen verschwinden diese Gebäudeverzierungen langsam aus dem Stadtbild. Sie wünscht sich daher eine genaue Inventarisierung, wie sie gerade in Köln per Bürgerbeteiligung stattfindet, um zunächst einmal den Status Quo festzustellen. „Unser Ziel ist, eine spezielle Forschungsgemeinschaft zum Schwerpunkt Sgrafitti zu gründen“, sagt Weyer. Gerade dem Sgrafitti würde wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl es sich um wichtiges Kulturgut handele.

Die Idee zu der Tagung hatte das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege (NLD). „Wir haben ein sehr großes Sgraffito in Buxtehude.  Das ist nicht einfach zu restaurieren und zu konservieren, aber materialtechnisch komplex und somit europäisch von hoher Bedeutung“, erzählt Dr. Kerstin Klein. „Wir haben an dem Buxtehuder Beispiel sehr viel Materialvielfalt in Form von dunkel gefärbten Putzen und eine sehr interessante Herstellungstechnik, weil wir eine reliefartige Oberfläche haben“, spricht sie über die Motivation des NLD, sich international zur Herstellung und über Erhaltungsoptionen bei einer Fachtagung auszutauschen.

„Seit 1994 sind wir Kooperationspartner des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege. Seitdem haben wir gemeinsam viele Projekte, Forschungen, Untersuchungen und Austauschprogramme für Studierende erfolgreich angeboten. Aktuell kooperieren wir zum Beispiel bei den Themen ‚Schieferkonservierung‘ und bei der Entwicklung von Strategien, um Schäden durch Besucherinnen und Besucher an der Schlosskapelle in Celle zu vermeiden“, so Prof. Dr. Michael von der Goltz, Studiendekan Fakultät Bauen und Erhalten, Konservierungs- und Restaurierungsstudiengänge, in seinem Grußwort

Detaillierter Tagungsbericht

Seit dem Mittelalter prägen Sgraffito-Dekorationen das Bild vieler europäischer Städte und Dörfer: Es gibt diese Fassadendekorationen, wie Ruiz Alonso eingangs erläuterte, in Italien ab Beginn des 14. Jahrhunderts, ab dem 16. Jahrhundert dann auch in Österreich, Süddeutschland, Böhmen, Mähren, Pommern und Schlesien. Im 17. und 18. Jahrhundert ist die Fassadendekoration nur noch für Spanien und den Alpenraum registriert, bis sie dann Mitte des 19. Jahrhundert in Deutschland „wiederentdeckt“ wird und sich bis Anfang des 20. Jahrhunderts - vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg - verstärkt über größere Teile Europas ausbreitet.

Die Bilder sind aus Fassadenputzen gekratzt oder geschnitten und zeigen eine Vielzahl an oft großformatigen Motiven, die – so waren sich die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer einig – oftmals mehr als einfache Dekoration sind und viele verschiedene Themen der jeweiligen Zeiten aufnehmen, z.B. Tugenddarstellungen, Geschichten aus der Bibel, Jahreszeitenbilder, Tiere bis hin zu Firmenschildern.

Am Tagungsort Hildesheim haben sich an Wiederaufbauten der 1950er Jahre viele hochwertige Putz-Dekorationen mit Darstellungen im Krieg zerstörter Hildesheimer Denkmale erhalten, die somit den auch heute noch präsenten Schmerz über den Verlust der kulturellen Identität zeigen.

Da sich die künstlerische Technik der Sgraffiti gerade für monumentale Fassadenbilder eignete, haben sich ihrer auch totalitäre Regime des 20. Jahrhunderts bedient, was in Danzig dazu führt, dass auch rein künstlerische Gestaltungen aus der Zeit abgelehnt werden, so Anna Kriegseisen. Roswitha Kaiser erläuterte anhand einiger NS-Propaganda Sgraffiti, dass aber auch diese Zeugnis abgeben von einer geschichtlichen Epoche und daher laut Gesetz zu bewahren sind, allerdings der Bevölkerung unbedingt erklärt werden müssten.

Wahrgenommen werden Sgraffiti zumeist als billiger Ersatz einer ‚richtigen‘, also aus teureren Materialien bestehenden Wandgestaltung. Dass eine solche Sicht der Revision bedarf, erläuterte Andreas Huth, indem er nachwies, dass in Italien der Frühen Neuzeit vorrangig Schlösser, die Paläste reicher Bürger und auch Kirchen so geschmückt waren, also nicht eben Bauwerke, bei deren Errichtung und Ausschmückung streng gespart wurde.

Spätestens der globale Überblick über Sgraffiti von Ruiz Alfonso, die Präsentationen der Nachkriegs-Sgraffiti in Köln durch Christoph Schaab oder die Beispiele aus Israel von Shay Farkash und Yossi Gabriel bestätigten, dass Sgraffiti von eigener gestalterischer und künstlerischer Qualität sind.

Denkmalpflege und Restaurierung

Die Bürgerinnen und Bürger laufen heute oftmals achtlos an den Sgrafitti ihrer Stadt vorbei, da sie im viel belebteren Stadtbild kaum mehr auffallen. Und da beginnt das Problem heutiger Denkmalpflege: Sgraffiti verschwinden immer mehr aus unserem Stadtbild: aus Geringschätzung und Unkenntnis übermalt oder gar zerstört, bei der Wärmedämmung überdeckt oder durch mangelnde Pflege dem Zerfall preisgegeben. Ihre Erhaltung gehört seit Jahrzehnten argumentativ zu den anspruchsvollsten Aufgaben der Denkmalpflege, wie Manfred Koller und Kerstin Klein erläuterten.

Die Schwierigkeiten der Erhaltung von Sgraffiti liegen sowohl in ihrer Herstellungstechnik begründet, sind aber auch häufig auf eine wechselvolle Geschichte von Verfall und Reparatur zurückzuführen (Kerstin Klein). Restaurator/inn/en sehen sich - insbesondere infolge früherer eingebrachter Konsolidierungsmittel (z.B. Christoph Tinzl) oder Alterung der originalen Materialien (Kimberley Reczek) - bisweilen zu großflächigen Rekonstruktionen gezwungen (Christiane Meier).

Dies widerspricht nicht nur der heute gängigen Restaurierungsethik und Ästhetik, sondern ist oftmals aufgrund extrem stark geschädigter Oberflächen gar nicht originalgetreu möglich und muss bisweilen auf der Grundlage historischer Grafiken und Fotografien durchgeführt werden (Matthias Zahn). Wie schwer das ist, insbesondere wenn nur technisch verschiedene schwarz-weiß  Fotos zur Rekonstruktion historischer Farbigkeit vorliegen, machte Claire Fontaine an einigen hochkarätigen Jugendstil-Sgraffiti aus Brüssel deutlich.

Dass selbst in einer Stadt im Lauf weniger Jahrzehnte sehr verschiedene Materialien benutzt wurden, zeigten die vielen aktuellen, verschiedenartigen Querschliffe von Hildesheimer Sgraffiti aus den 1930 bis 1950er Jahren, die Anneli Ellesat, HAWK-Werkstattleitung für die Studienrichtung Wandmalerei und Architekturoberfläche, vorstellte.

Diese Vielfalt an Materialien und Darstellungen führte in jüngerer Zeit aber auch zu Beispielen, bei denen lokale Traditionen zugunsten vermeintlich historischerer Gestaltungen missachtet und verfälscht wurden, wie Ulrich Fritz an Beispielen aus dem Schweizer Alpenland erläuterte, wo man z.B. bei Rekonstruktionen oftmals die örtliche Farbigkeit missachtete und die Sgraffiti stärker kontrastierte.

Einen Einblick in die technische Vielfalt der Erhaltungsansätze der vergangenen Jahrhunderte erhielten die Teilnehmenden z.B. bei den Erläuterungen von Matthias Staschull und Klaus Häfner zu den Sgraffiti von Schloss Neuburg an der Donau. Dass es sich bei der Erforschung und Erhaltung keinesfalls um nationale Fragestellungen oder Herausforderungen handelt, sondern um einen transnationalen Ansatz, zeigte Zuzanna Wichterlova mit einem Einblick in eine in Tschechien seltene Sgraffito Technik, die sie auch im nahegelegenen Österreich vermutet und die bei Restaurierungsarbeiten zu beachten sei.

Workshop

Da man künstlerische Techniken im wahrsten Sinne erst einmal „begreifen“ muss, bevor die eigentlich Arbeit an historischen Werken beginnt, bietet die HAWK im Rahmen von Tagungen oftmals praktische Workshops an. Auch bei dieser Tagung waren die 20 Plätze dazu sehr schnell vergeben. Die Teilnehmenden lernten von Restaurator Peter Erhardt die praktische Erstellung eines zweischichtigen Sgraffito an der Wand: von der Aufbringung eines mit Holzkohle gefärbten einlagigen Verputzes (aufgrund der zeitlichen Begrenzung ein modernes Putzsystem), über den 3maligen Auftrag dünner weißer Tünchen, der Übertragung eines Motives in Lochpaustechnik bis hin zum linearen und großflächigen Abkratzen der Tünchen mit verschiedenartigen Werkzeugen zur Gestaltung der Bilder.

Ausblick

Um die neuen Erkenntnisse langfristig der Öffentlichkeit bereitzustellen, ist eine Publikation im Jahr 2018 geplant, die auch zum kostenfreien Download über die Website des Hornemann Instituts angeboten werden wird. Da es bislang keine vergleichbare Publikation gibt, wird mit dieser Tagungspublikation ein Grundlagenwerk geschaffen. Da sehr viele Referent/inn/en an Hochschulen lehren, werden die neuen Forschungsergebnisse zudem auch zeitnah in die Lehre einfließen.

„Wir sind den Zielen, die wir uns mit der Tagung gesteckt haben, ein gutes Stück näher gekommen“, so Dr. Angela Weyer, Leiterin des Hornemann Instituts des HAWK und Sprecherin der Vorbereitungsgruppe aus Anneli Ellesat, Barbara Hentschel, Heike Leuckfeld (alle HAWK) sowie Dr. Kerstin Klein (NLD): Die Restauratorinnen aus Belgien (Claire Fontaine), Deutschland (Matthias Zahn, Christina Meier) Großbritannien (Kimberley Reczek), Israel (Yossi Gabriel) oder Tschechien (Jan Vojtěchovský) haben sehr konkret ihre Restaurierungsmaßnahmen und Problematiken an aussagekräftigen Fallbeispielen erläutert.

Auch die Schaffung eines ersten internationales Sgraffito Netzwerkes wird nun fassbar: Der Tscheche Jan Vojtěchovský will 2018 eine Nachfolgekonferenz nahe des UNESCO-Welterbes Schloss Litomyšl organisieren. Der Israeli Shay Farkash kündigte einen Call for Papers für eine Wandmalerei-Restaurierungstagung in Jerusalem an. Langfristig plant das Hornemann Institut der HAWK auf der Basis dieser ersten europäischen Plattform für Sgraffito-Spezialisten mit einigen der Referenten einen Förderantrag bei der Europäischen Kommission, um die erarbeiteten Desiderate in Forschungsfragen zur Entwicklungs- und Technikgeschichte und Materialität aufzuarbeiten.

Parallel, so waren sich alle einig, muss die Inventarisation vorangetrieben werden, bestenfalls wie in Köln mit Bürgerbeteiligung, um überhaupt erst einmal eine qualifizierte Bestandsaufnahme von Motiven, Techniken und Schaffenden zu erhalten. Auf dieser Grundlage wird es den Entscheidungsträgern in der Denkmalpflege leichter fallen, die kulturhistorische Bedeutung von Sgraffito-Dekorationen zu erläutern und damit den Weg für ihre qualifizierte Erhaltung zu bereiten.

Die Tagung wurde veranstaltet in Erinnerung an Prof. Dr Nicole Riedl-Siedow (1971-2017).