Das berühmte Haus Tugendhat in Brno, ein Hauptwerk der Klassischen Moderne in Europa, 1928 – 1930 nach den Plänen von Ludwig Mies van der Rohe erbaut, ist seit 2001 auf der Liste des Weltkulturerbes der UNESCO. Der legendäre, gleichzeitig geplante Barcelona-Pavillon ist nur noch in einer modernen Kopie erhalten, auch andere Bauwerke von Mies van der Rohe in Europa sind zum Teil stark erneuert. Demgegenüber hat das Haus Tugendhat den seltenen Vorzug, dass sehr viel von der ursprünglichen Substanz des Hauses erhalten ist.
Wert der Oberfläche: surface is interface
Die Untersuchung und Erhaltung von Gemälden wie der Sixtinischen Fresken von Michelangelo wird mittlerweile als selbstverständliche Aufgabe von Restauratoren akzeptiert. Im Feld der historischen Architekturdenkmale fehlt dieses Bewusstsein. Originale verputzte Oberflächen werden in vielen Ländern nach wie vor zerstört und mit Materialien renoviert, die mit den historischen Materialien nicht kompatibel sind. Besonders krass ist die Situation bei der modernen Architektur. Originale Oberflächen wichtiger Frühwerke von Mies van der Rohe z. B. sind unbekannt, durch Renovierung beschädigt oder zerstört und mit nicht adäquaten Materialien erneuert. Die Oberflächen sind nicht irgend ein beliebiger Teil des Architekturdenkmals, sondern die Vermittlungsebene, das interface zwischen Bauform und Betrachter. Für die Architektur von Mies van der Rohe hat die Materialität der Oberflächen eine vorrangige Bedeutung.
Untersuchungen der HAWK Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst: internationale Kooperation
Unterstützt von einem Sponsor, der Salzburger Kalkfirma Dullinger, untersucht Prof. Dr. Ivo Hammer von der HAWK Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim mit seinen Studierenden der Konservierung von Wandmalerei/Architekturoberfläche die Fassadenoberflächen des Hauses Tugendhat.
Das Haus Tugendhat ist Teil des Museums der Stadt Brno. Für die Untersuchungscampagne der HAWK vom 3. – 14. Mai 2004 ließ die leitende Managerin des Hauses Tugendhat, Dipl. Ing. Architektin Iveta Cerna, mit Hilfe eines Sponsors in Brno (Baufirma Tochácek) die Fassade für zwei Wochen einrüsten.
Ziel der Untersuchungen ist die Definition der ursprünglichen Oberfläche der Fassade des Hauses Tugendhat, der späteren Veränderungen, der Schäden und ihrer Ursachen und schließlich die Entwicklung eines Konzepts zur Konservierung der ursprünglichen Oberfläche und zur nachhaltigen Pflege der Fassade. Selbstverständlich werden die Untersuchungen im Einvernehmen mit der staatlichen Denkmalpflege und ihrem zuständigen Vertreter, Bc. Karel Ksandr und dem Direktor des Museums der Stadt Brno, Dr. Pavel Ciprian durchgeführt.
Die Untersuchungen laufen seit Oktober 2003, mehrere Labors in der Tschechischen Republik (Ing. Schlesinger, Doz. Ing. Pavla Rovnaniková, Technische Universität Brno, ) und Deutschland (z.B. Prof. Dr. Erwin Stadlbauer, NLD; Dr. Dietrich Rehbaum, ProDenkmal) haben Materialproben analysiert. Auch Quellen und kunsthistorische Erkenntnisse zur Objektgeschichte und zu anderen Bauten der Klassischen Moderne wurden ausgewertet, vor allem die von Karel Ksandr geleitete Zusammenfassung aller bisherigen historischen Untersuchungen.
Praktische Hilfestellung boten auch Ing. Karol Bayer vom Institut für Konservierung/Restaurierung der Hochschule von Litomysl und Dr. Dr. Petr Dvorak, Repräsentant der Firma Deffner und Johann in Brno.
Materialfarbene Fassadenoberflächen
Die bisherigen Ergebnisse der Untersuchungen zeigen, dass die Oberfläche der verputzten Fassade nicht weiß war, sondern steinfarben, nur wenig heller als der für Sockel, Brüstungen, Böden und Treppen verwendete Travertin-Stein. Die gelbliche Fassadenfarbe aus Kalk, etwas Kaliwasserglas und einem geringen organischen Zusatz war in sorgfältiger Herstellungstechnik so gestrichen, dass die Sandkörnung des geriebenen Putzes in Farbe und Struktur Teil der ästhetischen Wirkung der Oberfläche wurde. Entsprechend den allgemeinen ästhetischen Prinzipien des Designs des Hauses stand also auch beim Fassadenputz die Materialfarbigkeit im Vordergrund, die Farbe diente der Veredelung der Materialoberfläche.
Die Reparaturen an der Fassade hat man in der Zeit von 1931 bis 1970 weitgehend mit traditionellen, mit der ursprünglichen Oberfläche kompatiblen Materialien ausgeführt. Der rezente Fassadenanstrich von 1985 besteht aus einer Zementschlämme und einem Anstrich, der Kunstharze enthält. Diese Beschichtung wirkt schädlich auf die ursprüngliche Oberfläche, sie erzeugt thermische Spannungen und beschleunigt die Verwitterung durch ihre filmbildenden Eigenschaften.
Ziele und Methoden der Untersuchung
Nach der ersten exemplarischen Untersuchung der historischen Substanz und ihres Zustands dokumentiert die HAWK derzeit die gesamten Fassadenflächen von ca. 2000 m². Ziel ist eine statistische Übersicht über den Umfang der Erhaltung der ursprünglichen Fassadenoberfläche und ihren Zustand.
Zugleich werden in einzelnen Proben technische Möglichkeiten der Reinigung und Konservierung und auch der nachhaltigen Pflege getestet. Die Methoden der Konservierung unterscheiden sich nicht von jenen, die in der Konservierung von Wandmalerei eingesetzt werden. Zur Behandlung von Gipskrusten werden in Florenz entwickelte Methoden angewandt, mit denen zum Beispiel die berühmten Wandmalereien von Masaccio (1426-28) in der Brancacci Kapelle der Chiesa del Carmine in Florenz behandelt wurden.
Perspektiven
Die Untersuchungen der HAWK verstehen sich als erster Schritt einer notwendigen Reihe von restauratorischen und interdisziplinären Untersuchungen, die alle im Haus Tugendhat verwendeten Materialien und Oberflächen umfassen. Ein Objekt so herausragender kultureller Bedeutung wie das Haus Tugendhat erfordert eine breite internationale und interdisziplinäre Zusammenarbeit von Spezialisten der Denkmalpflege, auch von Restauratoren. Die Ergebnisse der Untersuchungen werden sicherlich auf internationaler Ebene diskutiert werden, bevor am Objekt konkrete Maßnehmen der Restaurierung getroffen werden.
Am wichtigsten ist die Erhaltung der kostbaren historischen Substanz. Erst in zweiter Linie ist die Frage relevant, in welchem Umfang, mit welchen Materialien und Methoden verlorene historische Substanz rekonstruiert werden soll. Auch die Spuren der Geschichte sind Teil des Denkmals.