Studierende analysieren und abstrahieren Bauwerke

Erscheinungsdatum: 18.05.2021

Das Masterseminar „Architektur abstrahieren“ von Prof. Dr.-Ing. Till Böttger und Ulrike Knauer M. Sc. an der Fakultät Bauen und Erhalten der HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen vermittelt konstruierte Materialität in seinem Zentrum. Die Studierenden setzen sich intensiv mit einem aktuellen Bauwerk auseinander und führen eine architektonische Analyse durch. Sie stellen einzelne Parameter in abstrakten Zeichnungen dar und verdeutlichen so die architektonische Haltung.

Jedes Semester steht ein besonderer Umgang mit Materialität im Spannungsfeld zwischen „Leicht und Schwer“ im Fokus der Betrachtung. Im Wintersemester 2020/21 ging es darum, herausragende Bauwerke zu untersuchen, die überwiegend in Holzmassivbauweise entstanden. Zur Auswahl standen unter anderem Bauwerke von Bernardo Bader, Peter Zumthor, Bruno Fioretti Marquez, HK Architekten, Giovanni Netzer, Kühnlein Architektur.

Warum die Frage nach einer massiven Konstruktion? Die Architektur betrachtet im Allgemeinen zwei Bauweisen und zwar „massive“ und „filigrane“ Systeme. Bei den filigranen Ansätzen übernehmen meist Skelette und mehrere Schichten die konstruktiven Anforderungen. Für Bauwerke mit temporärer Nutzung oder bei großen Spannweiten bieten diese additiven, skelettartigen Strukturen Vorteile. Wenn es darum geht, sich aber einer dauerhaften und kompakteren Bauweise zu bedienen möchten, dann ist die Massivbauweise oft von Vorteil. Die Massivbauweise ist stark in der Tradition des Bauens verwurzelt und kann durch ihre homogene bis hin zu monolithischer Einfachheit authentisch sein. Holzmassivkonstruktionen versprechen Vorteile in der Logistik, bei der einfachen Koordination von Gewerken und überzeugen durch positive bauphysikalische Eigenschaften.

 

Das Bedürfnis nach Architekturkonzepten aus massiven Systemen und vor allem aus Holz nimmt zu. Oft steht dies als Gegenpol dem Flüchtigen und Schnelllebigen unserer Zeit entgegen. Der Wunsch nach Stabilität und Nachhaltigkeit lässt Architektinnen und Architekten sowie Holzbaubetriebe sogar ganze Gebäude aus Holz bauen, ohne auf die Hybridbauweise zurückzugreifen.

Im Zuge dessen, haben sich die Studierenden zunächst mit dem Begriff „Holz massiv“ auseinandergesetzt und anschließend durch gängige Analysetechniken das Gebäude schrittweise untersucht. Sie zerlegten das jeweilige Bauwerk in seine konstituierenden Komponenten zerlegt und analysierten es unter anderem auf den Ebenen „Stadt & Land“, „Bauwerk & Form“ und „Raum & Detail“. So entstanden monochrome Zeichnungen, die das Gebäude auf seine besondere und von der Norm abweichende Art darstellen.

Lea Steiner & Theresa Szentmiklossy von Primocz – „Jagd- und Forsthaus Tannau“ von Ludescher + Lutz Architekten

Das mitten im Tettnanger Wald stehende Solitärgebäude soll ein Demonstrationsobjekt für zeitgemäßen, technisch vereinfachten Holzbau sein. Das Ziel bestand darin, alle Funktionen (Jägerstube, Teeküche, Fahrzeughalle, Wild- und Kühlkammer) aus den unterschiedlichen maroden Waldhütten der Umgebung in einer Hütte zu vereinen und so einen neuen gemeinsamen Waldarbeitendenstützpunkt für den Forst zu schaffen. Das gesamte Bauwerk entstand in Holzmassivbauweise und besteht ausschließlich aus hölzernen Verbindungsmitteln. Eine Ausnahme stellen der raumbildende Kamin und der Zerwirkraum dar – diese beiden Bereiche ließen sich nicht vollständig aus Holz konstruieren. Aus Gründen der Nachhaltigkeit kam ausschließlich Holz aus der Umgebung zur Errichtung des Gebäudes zum Einsatz.

Amelie Traupe & Georg Flotho – „Origenturm - Rotes Holzzeichen“ von Giovanni Netzer

Der 2017 erbaute Origenturm platziert sich in 2284 Metern Höhe auf dem Julierpass in der Schweiz. Er symbolisiert überspitzt die historische Bedeutung des Passes als Begegnungsort verschiedener Kulturen und stellt mit seiner kulturellen Funktion in Form einer Theaterbühne eine Neuinterpretation dieses Zusammentreffens dar. Um einen maximalen Kontrast zur kargen Umgebung des Passes zu schaffen und das monolithische Erscheinungsbild des Gebäudes sowie die Wichtigkeit des Ortes herauszustellen, erstrahlt die Gebäudeoberfläche in kräftigem Rot. Die Gesamtkonstruktion aus 40 vorgefertigten Massivholzelementen ermöglicht eine kurze Bauzeit. Das geometrische Zusammenspiel der einzelnen Fünfecke gewährleistet die Standhaftigkeit bei den extremen Witterungsverhältnissen.

Johannes Reuter & Nils Keck – „Kindergarten Lugano“ von Bruno Fioretti Marquez

Der Kindergarten ist ein eigenständiger Baustein in einem engen Stadtgefüge aus Apartmenthäusern und Investorenarchitektur der letzten Jahrzehnte in der Stadt Lugano. Durch einen geringen Öffnungsanteil in der Außenfassade grenzt sich das Gebäude von der Umgebung ab und öffnet sich zu den Innenhöfen im Inneren. Die Architektur basiert auf einem Raster aus trapezförmigen Modulen, von denen immer fünf zusammenhängende einen Gruppenraum bilden. Diese Module aus Brettsperrholzelementen haben alle dieselbe Grundform, sind aber zueinander gedreht und gespiegelt angeordnet und weisen unterschiedliche Dachneigungen auf, sodass jedes Modul einzigartig wirkt.

Cathleen Berg & Cedric Krüger – „Olpererhütte“ von HK Architekten

Die Schutzhütte befindet sich auf 2389 m Höhe in den österreichischen Alpen (Ginzling) und lässt sich nur zu Fuß über die Wanderwege oder mit einem Helikopter erreichen. Die vorgefertigten Brettsperrholzelemente für den Aufbau der Hütte sowie die Lebensmittel kamen auf diesem Weg zur Hütte. Die Olpererhütte dient Bergesteigenden ausschließlich als Sommerherberge und vereint die Raumprogramme: gemeinschaftliches Kochen und Essen im Erdgeschoss und Schlafen in kleinen Bettlagern im Obergeschoss. Der Aufenthaltsraum ist der Raum, wo sich die Besucher der Hütte am meisten aufhalten.  Deswegen richtet sich dieser nach Süden mit einem großen Panoramafenster aus, welches den Blick ins Tal freigibt. Der massive Baukörper fügt sich in den Berghang ein und betont die historische Sockelmauer aus Naturstein, indem die oberen zwei Geschosse hinauskragen. Diese Auskragung lässt den Baukörper aus Holz gleichzeitig leichter wirken. Die verschindelten Außenwände, einschließlich des Daches, lassen den Baukörper homogen aussehen. Wenn die Fensterläden bei rauem Wetter geschlossen sind, besitzt die Schutzhütte eine einheitlich geschlossene Außenhülle aus Holz. Massive Brettsperrholzmodulwände nehmen neben der Tragenden auch eine dämmende Funktion ein.

Patricia Huperz & Tom Janus – „Wohnhaus aus Holz“ von Kühnlein Architektur

Das private „Wohnhaus aus Holz“ von Kühnlein Architektur findet sich in Neumarkt in der Oberpfalz in Österreich und liegt somit sehr ländlich. Durch seine einfach gehaltene monolithische Bauform mit Satteldach und seiner Holzlamellen-Fassade passt sich das Gebäude gut in die Umgebung ein. Hinter der vermeintlichen Einfachheit des Wohnhauses befindet sich eine interessante Inszenierung von Gegensätzen. Diese entstehen durch das Wechselspiel von offen und geschlossen. Die Sicht von innen nach außen gelingt durch die Öffnungen im massiven Baukörper dauerhaft und zwischen den Lamellen kann man hindurchsehen. Anders sieht es bei der Sicht von außen nach innen aus. Abgesehen von einem großen Fenster an der Ostseite und einer bodentiefen Fensterreihe hin zur Terrasse bleiben die Öffnungen im massiven Baukörper durch die Lamellen versteckt. Das Wohnhaus aus Holz lebt von Kontrasten: innen – außen, offen – geschlossen, monolithisch – komplex, homogen – heterogen, die bei immer näherer Betrachtung die Spannung steigern. Ein zeitgemäßer Bau, der sich vom Alten unterscheidet und sich harmonisch durch Materialität und Form einfügen kann.

Gerrit Baumhauer und Jawid Hassani – „Haus b“ von heinemeyerbeck Architekten

Das Einfamilienhaus in Stuttgart zeichnet sich durch Überlegungen zur Nachhaltigkeit, Bauökologie, und einem hohen Maß an Vorfertigung aus. Auf der vorgefertigten Holz-Massivwand liegt vor einer besonders ökologischen Zellulosedämmung eine Holzverschalung, die nach einer traditionellen japanischen Methode mit Feuer behandelt wurde, um das Haus vor Insekten, Feuchtigkeit und Schimmel zu schützen. Durch die offene Kubatur des Baukörpers auf der Südseite entsteht ein Außenraum als fast nahtlose Erweiterung des Innenraumes, während auf der Nordseite das Gebäude aufgrund einer viel befahrenen Straße und einer direkt vor dem Grundstück liegenden Bushaltestelle ohne Öffnungen abschließt.

Kontakt

Till Böttger
Prodekan, Lehrgebiet Darstellen, Gestalten, Entwerfen
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  • +49/5121/881-200213
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