Buch „Dörfer in Westfalen-Lippe“ erschienen

Erscheinungsdatum: 20.06.2025

Am Westfalentag in der Kokerei Hansa in Dortmund präsentierte der Landschaftsverband Westfalen-Lippe zusammen mit dem Aschendorff Verlag das gerade erschienene Buch „Dörfer in Westfalen-Lippe - Bestandsaufnahme und Situationsanalyse“. Prof. Dr. Ulrich Harteisen (HAWK), freute sich, zusammen mit dem Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Dr. Georg Lunemann, und Dr. Silke Eilers, Geschäftsführerin des Westfälischen Heimatbundes (WHB), sowie Dr. Rudolf Grothues, Geschäftsführer der Geographischen Kommission des LWL, über das gelungene Forschungsprojekt.

Von 2022 bis 2025 haben der Verwaltungs- und Regionalwissenschaftler Rolf Gehre, die Umweltpsychologin Dr. Swantje Eigner-Thiel und der Geograph Prof. Dr. Ulrich Harteisen die Forschung, die nun in die Publikation mündete, im Auftrag der Geographischen Kommission für Westfalen des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) durchgeführt. „In diesem Projekt hat gerade die interdisziplinäre Zusammenarbeit maßgeblich zum Erfolg beigetragen“, so Ulrich Harteisen. 
Vor 50 Jahren wurde in Nordrhein-Westfalen die kommunale Gebietsreform abgeschlossen. Durch sie haben hunderte Dörfer nicht nur ihre politische und administrative Eigenständigkeit verloren, sondern sie sind auch statistisch unsichtbar geworden. Niemand hat seither zu ermitteln versucht, wie viele Dörfer es gibt und wie viele Menschen in ihnen leben. Auch ein Blick in die Landesstatistik beantwortet das nicht.
Diese Lücke gab den Anstoß für das Forschungsvorhaben „Dörfer in Westfalen-Lippe – Bestandsaufnahme und Situationsanalyse“.

 

Aber was ist ein Dorf? 
Es gibt keine eindeutige wissenschaftliche Definition. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff „Dorf“ als Synonym für alle ländlichen Siedlungen verwendet, ohne nach Siedlungsform oder Größe zu unterscheiden. Doch das Ortsbild vieler Dörfer hat sich in den letzten Jahrzehnten durch Neubautätigkeiten, Umnutzungen und Sanierungen erheblich
verändert. Der ursprüngliche Ortsgrundriss und die dorftypische Baukultur sind vielerorts kaum noch erkennbar. Viele Dörfer gleichen immer mehr städtischen Siedlungen. Im Umfeld der Städte sind die Übergänge vom Dorf zur Stadt fließend, auch das macht eine Zuordnung schwierig. Im Rahmen des Forschungsprojektes wurden alle Ortschaften von Westfalen-Lippe im Karten- und Luftbild analysiert und nach der Lage im Raum, der Zahl der Einwohner*innen und ähnlichen Kriterien eingeordnet.
Die wichtigsten Ergebnisse:
Zurzeit gibt es in Westfalen-Lippe 2316 Dörfer. In ihnen leben 2,54 Millionen Menschen. Das sind gut 30 Prozent der Gesamtbevölkerung. Weitere 191 dörfliche Siedlungen in Westfalen-Lippe liegen in unmittelbarer Nähe zu Städten und vereinen Kennzeichen von Dorf und Stadt. Bezieht man sie mit ein, leben 3,2 Millionen Menschen in Westfalen-Lippe in dörflichen Siedlungen. Das entspricht 38 Prozent der Gesamtbevölkerung.
 

Quantitative Forschung

Bei unserer Untersuchung wurden in einem ersten Schritt die hauptamtlichen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister aller 231 Städte und Gemeinden in Westfalen-Lippe befragt. Ziel der Fragebogenerhebung war es, Informationen zu politischen Mitwirkungsmöglichkeiten, zur Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements und auch zur Nutzung verschiedener Förderprogramme zu gewinnen.

 

Einige Ergebnisse

  • 76,3 % der befragten Bürgermeister*innen sind der Ansicht, dass die Interessen der Ortschaften durch Ortsvorsteher sowie Bezirksausschussvorsitzende effizient vertreten werden. Andererseits gibt es in einer erheblichen Zahl von Dörfern keine Ortsvorsteher*innen mehr. Es wird immer schwieriger, für diese Aufgabe Personen zu gewinnen.

  • Fast alle Befragten (97,2 %) sagen, dass die Arbeit engagierter, ehrenamtlicher Gruppen die Attraktivität des Dorfes als Wohnort erhöht. Sie trägt aus ihrer Sicht zudem wesentlich zur Bildung einer lokalen Identität bei und macht das Dorf auch für potenzielle Neubürger*innen interessant.

  • Die Ergebnisse der Befragung zeigen weiterhin, dass neben dem bewährten und kommunal sehr bekannten Förderprogramm der „Struktur- und Dorfentwicklung“ die noch relativ neue „Heimat-Förderung“ intensiv genutzt wurde. Das Programm ist so angelegt, dass mit einem überschaubaren Aufwand Fördermittel, so der Heimat-Scheck, akquiriert werden können, und erfreut sich wohl gerade deshalb in den Dörfern einer gewissen Beliebtheit. 

  • Gefragt wurde auch nach weiteren Förderbedarfen, die zukünftig im Förderprogramm „Struktur- und Dorfentwicklung“ berücksichtigt werden sollten. Die Nennungen zu weiteren potenziellen Fördermaßnahmen zeigen, dass sich Förderbedarfe im Kontext von Transformationsprozessen weiterentwickeln. So gewinnt das Thema der Umnutzung historischer Bausubstanz an Bedeutung, wie auch das des Abrisses von Schrottimmobilien. Zudem wurde der Wunsch, auch soziale Projekte in die Liste der Fördermaßnahmen aufzunehmen, artikuliert.

Qualitative Forschung

Ergänzend zur Befragung wurden in 11 Dörfern unterschiedlicher Größe in allen Teillandschaften von Westfalen-Lippe 25 Interviews mit in Kommunalpolitik und Vereinen engagierten Menschen geführt. Von Interesse waren insbesondere die subjektive Bewertung der Lebensbedingungen und der Mitwirkungsmöglichkeiten von Menschen in ihren Dörfern. Inhaltlich standen folgende Aspekte im Fokus der Interviews:

  • Politische Partizipation und Ehrenamt 

  • Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse – Daseinsvorsorge

  • Förderprogramme für das Dorf

     

 

Einige Ergebnisse der Interviewstudie

  • Die befragten Ortsvorsteher*innen sehen ihre Einflussmöglichkeiten in den Dörfern und nehmen sie überwiegend engagiert und mit Freude wahr. Wo keine Ortsvorsteher*innen (mehr) vorhanden sind, entwickeln sich zum Teil andere Ehrenamtliche als Kontaktpersonen zwischen Dorf und übergeordneter Gemeinde. 

  • Ehrenamtliches Engagement ist auf dem Land ein sehr wichtiger Entwicklungsfaktor! 
    Es wird von den Engagierten ein sehr breites thematisches Spektrum an Zielen und Aktivitäten verfolgt. Dieses geht von der Heimat- und Brauchtumspflege und der Organisation von Kulturveranstaltungen über die Gestaltung und Instandhaltung von Dorfgemeinschaftshäusern und des Dorfbilds allgemein bis hin zur Herausgabe einer Dorfzeitung oder der Förderung alternativer Mobilitätskonzepte.

  • Die Engagierten nutzen gerne unkomplizierte Fördermöglichkeiten wie den Heimat-Scheck. Aber auch über den „kleinen Dienstweg“ vom Dorf in die Verwaltung von Stadt und Gemeinde können viele bescheidenere Projekte erfolgreich umgesetzt werden. Hier beeinflusst die Qualität der Beziehungen zwischen einzelnen Personen aus dem Dorf zur Kommune das Gelingen der Bemühungen: Ein guter Draht „nach oben“ macht sich für die Dörfer an dieser Stelle positiv bemerkbar. 

  • Ein bekanntes und viel genutztes Förderprogramm ist LEADER. Aus Sicht der Engagierten vor Ort ist die Förderung allerdings mit einigen Herausforderungen verbunden: Dies ist zum einen die lange Dauer von der Antragstellung über die Bewilligung bis zur Auszahlung und zum anderen die zwischenzeitlich nötige Vorfinanzierung meist relativ großer Summen, die gerade von Vereinen in den Dörfern nur schwerlich geschultert werden können. Das LEADER-Programm wird daher differenziert bewertet: Inhaltlich bietet es hervorragende Fördermöglichkeiten, allerdings überfordern der Verwaltungsaufwand und die Rahmenbedingungen häufig die Akteure in den Dörfern. 

Ableitungen für Forschung und Praxis

Ein zentrales Ergebnis der Forschung stellt die Erfassung der dörflichen Siedlungen mit Einwohnerzahl auf der Ebene der Ortschaften dar. Es existiert damit eine aktuelle Datenbasis und es wird empfohlen, die Entwicklung eines Siedlungsmonitorings mit kontinuierlicher Datenerfassung auf Ebene der Ortschaften im Sinne einer laufenden Raumbeobachtung zu entwickeln und zu etablieren. Aufgrund des aktuell hohen Transformationsdrucks, dem Dörfer durch ökonomische, soziale und ökologische Veränderungen ausgesetzt sind, wird ein forschend-analytischer und mehrdimensionaler Blick immer wichtiger. Der Forschungsbedarf aus verschiedenen Perspektiven ist groß. So könnten in der Grundlagenforschung ausgehend von einer Analyse historischer Transformationsprozesse und deren Bewältigung in Dörfern Rückschlüsse auf Resilienzstrategien für Gegenwart und Zukunft abgeleitet werden. Aber auch die praxisrelevante Forschung zur Dorfentwicklung bleibt wichtig, so z. B. eine Analyse der Wirkung unterschiedlicher Förderprogramme und methodischer Ansätze auf die Dorfentwicklung.  

Die Ergebnisse der Forschung zeigen, dass das bürgerschaftliche Engagement heute ein wesentlicher Entwicklungsfaktor für die Dörfer ist. Die Erfahrung, positive Veränderungen im Dorf eigenständig herbeiführen zu können und damit die Lebensqualität für alle zu verbessern, ist für ehrenamtlich Engagierte eine starke Antriebskraft. Engagierte vermissen aber oft eine Anerkennung und Wertschätzung sowie eine Unterstützung ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit. Es wird empfohlen, das bürgerschaftliche Engagement in Dörfern nicht nur wertzuschätzen, sondern mit konkreten Angeboten von der hauptamtlichen Verwaltung zu unterstützen.

 

Für die Umsetzung von Projekten sind nicht zuletzt auch Fördermittel von erheblicher Relevanz. Aussagen der Interviewpartner unterstreichen, dass sich ehrenamtlich Engagierte insbesondere auch eine Förderung von sozialen Prozessen zur Stärkung der Dorfgemeinschaft wünschen. Ansätze wie die Dorfwerkstätten des Zentrums für Ländliche Entwicklung (ZeLE), angesiedelt im Landwirtschaftsministerium von NRW, zielen in diesem Sinne in die richtige Richtung, sind aber bisher unzureichend finanziert und können daher nur wenigen Dorfgemeinschaften angeboten werden. Es wird daher empfohlen, die Richtlinie zur Förderung der Struktur- und Dorfentwicklung um Fördergenstände der sozialen Dorfentwicklung zu ergänzen. Weiterhin sollten niedrigschwellige Förderangebote, die eigenständig von Engagierten in den Dörfern beantragt werden, ausgebaut werden. 

Die Ergebnisse der Forschung zeigen eindrucksvoll, dass Dörfer bei allen Herausforderungen auch heute für eine große Zahl von Menschen in Westfalen-Lippe ein bevorzugter Wohnort und Lebensraum sind. Der in Bezug auf ländliche Räume und Dörfer in der Vergangenheit oft vorherrschende defizitäre Blick hat sich in den vergangenen Jahren verändert, hin zu einer Perspektive, die viel stärker als bisher die Vorzüge und Potenziale wahrnimmt. Diese neue Wahrnehmung ist eine gute Voraussetzung und kann Mut machen, die anstehenden Aufgaben der Dorfentwicklung mit viel Energie und Kreativität anzugehen. 

Die Wissenschaft kann wichtige Erkenntnisse liefern, die von Politik und Verwaltung wie auch von den Dorfbewohner*innen selbst in konkretes Handeln für eine gute Dorfzukunft umgesetzt werden müssen.

Kontakt

Prof. Dr. Ulrich Harteisen
Professor für Regionalmanagement und regionale Geografie, Studiengangskoordinator Masterstudiengang Regionalmanagement und Wirtschaftsförderung, Mitglied des Direktoriums des Zukunftszentrums Holzminden-Höxter
  • +49/551/5032-170
  • Grisebachstraße 4A
    (Raum GÖL_110, Lehrwerkstatt)
    37077 Göttingen
Eigner-Thiel
Koordination Forschungsgruppe "Ländliche Räume und Dorfentwicklung"