Interview: Prof. Dr. Lutz Finkeldey veröffentlicht Buch über „Denken in Zeiten einer Krise“

Publizierungsdatum: 16.09.2020

Die Coronavirus-Pandemie begegnet uns täglich in den Nachrichten, in Regeln und Vorschriften und in Gesprächen. Was macht eine solche Krise mit uns und unserem Denken? Prof. Dr. Lutz Finkeldey hat sich in seinem neuen Buch „Denken in Zeiten einer Krise – Nachdenken ist besser“ mit dieser Frage beschäftigt. Finkeldey lehrt und forscht an der HAWK im Bereich Soziale Arbeit, Soziologie und Politologie. Im Interview erklärt er, warum die Corona-Krise Verschwörungstheorien befeuert und wieso man auch mal das eigene Denken hinterfragen sollte.

Wie verändert die Krise unser Denken?

Das Grundmuster der Krise ist im Prinzip, dass sich der Horizont verengt. Das heißt, unser Denken insgesamt verliert an Breite und wir fokussieren uns auf etwas, ob das eine persönliche Krise ist oder auch eine gesellschaftliche Krise.

 

Also etwas, das von außen auf uns einschlägt und uns verunsichert, bewirkt, dass wir diese ursprünglichen Denkvorgänge nicht mehr so reproduzieren können. Wir denken dann in diesem Moment so, dass die Krise das Eigentliche ist. Und wie wir aus der Krise herauskommen, spielt im Prinzip im Denkvorgang keine Rolle mehr.

Das heißt, wir denken problem- statt lösungsorientiert?

Ich möchte es mal böse formulieren: Man denkt krisenorientiert. Wir denken immer mit „wie“. Jemand sieht aus „wie“, jemand denkt „wie“. Und wenn diese „Wies“ nicht mehr da sind, müssen wir uns plötzlich in etwas Neues hineinbegeben, was uns total verunsichert.
Und dadurch werden wir alles andere als lösungsorientiert. Oder wir suchen ganz einfache Lösungen. Dadurch entsteht Schwarz-Weiß-Denken. Und da kann ich im Prinzip auch den Bogen zu Corona spannen. Corona ist etwas, für das wir als Menschen bisher keine Lösung haben.
Durch die längere Zeit der Krise passiert es jetzt, dass einige erleben, dass die Krise sie sehr bedroht und andere sie so erleben, dass sie sagen, die Krise ist gar nicht präsent. Aber beide Seiten blenden im Prinzip aus, um was es eigentlich geht: Sich nämlich mit einem Phänomen zu beschäftigen, für das wir derzeit noch keine Lösung haben.

Beobachten Sie dieses Phänomen auch derzeit im Alltag?

Wenn wir die Möglichkeit haben, zu reflektieren, weil die Krise uns nicht völlig vereinnahmt, dann erleben wir selbstverständlich, dass Leute, beispielsweise bei den Corona-Demonstrationen, sagen: „Die sind doch alle blöd mit den Masken, Masken tragen bringt nichts! Wie viele haben denn Corona? Die Grippewelle ist schlimmer!“ – Solche Geschichten, die im Prinzip alle irgendwo einen kleinen wahren Kern haben. Aber was geschieht in diesen Auseinandersetzungen, ist, dass die Grundlagen, von denen wir ausgehen, verschieden sind. Das heißt, wenn ich davon ausgehe, dass Corona etwas Neues ist und wir noch keine genaue Lösung haben, denke ich anders, als wenn ich sage, Corona sei so etwas wie eine durchschnittliche Grippewelle. Dann habe ich es im Griff. Aber da der Mensch, bevor er völlig nervös wird, erst einmal nach einfachen Lösungen sucht, ist es einfacher, einen Weg zu gehen, der klare Antworten gibt. Das ist genauso mit Verschwörungstheorien. Die sind sehr einfach: „Trump ist es!“ Oder Bill Gates wird immer wieder gern verantwortlich gemacht. Es ist eine ganz einfache Möglichkeit der Benennung, die aber jede Form von Reflexion außen vorlässt.
Dennoch kann ich ungeheuer schwer die Menschen, die so denken, erreichen. Weil sie davon ausgehen, dass ich das Problem bin, aber gleichzeitig denken, dass sie aus meiner Sicht das Problem seien. Und so entstehen dann sehr schnell Aggressionen, die schwer zu lösen sind. Sicher ist jedenfalls, es gibt keinen Diskurs, der für alle eine Lösung hervorbringen kann. Das geht einfach gar nicht. Und so etwas Komplexes wie Corona, mit der Sphäre des „Nichtwissenkönnens“ bedeutet, wir müssen mit Unsicherheiten leben. Und das wollen viele nicht.

Wie kann man diesen Verschwörungstheorien entgegenwirken?

Durch diese Angst durch die Krise entsteht eine Verengung des Horizonts. Das heißt, wir müssen sehen, dass wir die Ursache und Wirkung für den Menschen wieder zusammenzubringen. Aber das ist eine Aufgabe, die ungeheuer schwer ist. Menschen brauchen, um zufrieden leben zu können, weitestgehend Zusammenführung von Ursachen und Wirkung. Und wir haben im Moment eine Ökonomie, einen Geldverkehr, eine klimatische Krise, bei denen wir überhaupt nichts mehr zusammenkriegen. Deshalb brauchen wir Verschwörungstheorien. Deshalb brauchen wir einfaches Denken. Aber dieses einfache Denken bedeutet, wie gesagt, wir kommen nicht mehr zusammen. Weil Sie vielleicht anders denken als ich.

Kann man trotz allem den Zusammenhalt in der Gesellschaft wieder stärken?

Wir haben ja erstmal mindestens in den letzten hundert Jahren dazu beigetragen, dass der Zusammenhalt in der Gesellschaft auseinandergeht. Damit will ich das Alte nicht heroifizieren, sondern einfach sagen, solidarisches Kapital, soziales Kapital ist heute wesentlich weniger da, beziehungsweise viel zentrierter auf bestimmte Gruppen, mit denen man den Alltag teilt. Und wenn wir eine Änderung haben wollen, wird es diese wahrscheinlich erst geben, wenn Corona kein Problem mehr ist. Wenn wir etwas gegen Corona haben, dann kann wieder der Horizont bei den meisten Leuten geöffnet werden und wird sich auch öffnen. Aber das Ganze ist dann nicht unbedingt etwas tiefgreifend Solidarisches, sondern wieder diese alte „Habensgesellschaft“. Ich kann wieder machen, was ich will. Ich kaufe mir meine Freiheit.
Es ist heute aber in vielen Kreisen auch so, dass die Menschen wieder mehr miteinander reden, weil sie sich einfach nicht so weit voneinander entfernen wie vor Corona. Das heißt, dass Nachbarschaften intensiver geworden sind, Freundschaften intensiver geworden sind, neue Freunde hinzugekommen sind. Und der Austausch über Corona bedeutet ja auch für viele eine Entlastung: Ich kann darüber reden und wenn ich darüber reden kann, dass es den anderen ähnlich geht, geht's mir auch besser.

„Nachdenken ist besser“ schreiben Sie in Ihrem Buch. Was meinen Sie damit?

Wir denken permanent. Aber Nachdenken bedeutet, für mich jedenfalls, dass ich auch mein Denken selbst in Frage stelle. Also, dass nicht alles selbstverständlich ist. Oder dass ich auch das Denken der Gruppe, in der ich lebe, in Frage stelle. In der Wissenschaft und gerade für Sozialwissenschaftler ist es ungeheuer wichtig, dass wir den Zweifel als Prinzip erheben. Da, wo wir uns am sichersten fühlen, ist es am besten, nochmal nachzuhaken, ob das wirklich so stimmt.
Im privaten Leben kann das zum Zermürben führen, aber da mache ich nochmal eine Trennung,
Also wenn ich gesellschaftliche Tendenzen mitbekommen will, muss ich die Gesellschaft hinterfragen. Dann muss ich auch in der Lage sein, mich selbst zu hinterfragen, auch meine eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Dass mir das immer gelingt, bleibt sicherlich ein Wunsch. Aber entscheidend ist, nicht das alltäglich Gedachte als objektiv zu betrachten. Objektivität gibt es nicht. Objektivität ist immer ein Konstrukt.