Medizintechnik: Große Herausforderungen in der Corona-Krise

Erscheinungsdatum: 27.04.2020

Die Corona-Krise stellt auch Mediziningenieurinnen und Mediziningenieure vor neue Herausforderungen. Ob Corona-Tests, Beatmungsgeräte, Atemschutz oder Tracking-Apps – für die Entwicklung und Herstellung dieser Produkte braucht es technisches, regulatorisches und medizinisches Know-how.

Entsprechend arbeiten Ingenieurinnen und Ingenieure derzeit unter Hochdruck, zum Beispiel zusammen mit Biochemikern an neuen Tests zum Nachweis der Erkrankung, aber auch an Testverfahren zur Qualifizierung von Atemmasken. HAWK-Professor Dr. Christoph Rußmann sieht die aktuellen Entwicklungen in seiner Einschätzung der Lage mit gemischten Gefühlen.

 

Um in Zukunft mehr Menschen auf das Virus testen zu können, braucht es schnellere und trotzdem zuverlässige Testmethoden. „Aktuell wird noch sehr viel Labordiagnostik durchgeführt“, beschreibt Rußmann. Er lehrt unter anderem im Bereich Medizintechnik am Gesundheitscampus Göttingen, einer Kooperation der HAWK und der Universitätsmedizin Göttingen (UMG). „Die Labortests sind zeitaufwendig und nicht beliebig skalierbar.“ Für die Tests werden Rachenabstriche von Patientinnen und Patienten mit COVID-19-Verdacht mit Hilfe einer Polymerase-Kettenreaktion (PCR) untersucht. Das Verfahren, das in abgewandelter Form auch für genetische Fingerabdrücke und Vaterschaftstests verwendet wird, ist anspruchsvoll und erfordert spezielle high-end Laborgroßgeräte. Von der Probenentnahme bis zum Ergebnis vergehen etwa 12 Stunden. So ist die Zahl der täglich durchführbaren Tests begrenzt. „Ideal wäre es, zusätzlich Tests direkt am ‚Point of Care‘, also vor Ort in den Arztpraxen oder direkt bei Patientinnen und Patienten durchführbar zu machen“, erklärt Rußmann. Dafür müssten die Tests weitgehend vereinfacht werden. „Salopp gesagt, brauchen wir ‘Geräte‘ oder ‘Kassetten‘, in die man Teststreifen mit aufgebrachten Proben hineingibt und der Test dann mehr oder weniger automatisch abläuft. Damit wäre das Verfahren überall durchführbar.“

Weltweit, auch in Deutschland, arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an mobilen Corona-Schnelltests. Dass diese Produkte möglichst schnell auf den Markt kommen, sei besonders für Länder wie Großbritannien und USA wichtig, erläutert Rußmann. „Dort gibt es ganz geringe Testkapazitäten. Die Identifizierung von Infizierten ist aber jetzt besonders wichtig, um das Virus durch Quarantänemaßnahmen eingrenzen zu können.“

Neben Corona-Tests fehlt es in diesen Tagen überall auf der Welt vor allem an Beatmungsgeräten. Die Verfügbarkeit eines solchen Geräts entscheidet im schlimmsten Fall über Leben und Tod einer Patientin oder eines Patienten. „Einfach gesagt, ist eine Beatmungsmaschine einfach eine Pumpe, die Luft in den Körper bläst“, erklärt Rußmann. „Doch schaut man genauer hin, ist das ein sehr komplexer Vorgang und eine Kunst für sich.“ Durch zu hohen oder zu niedrigen Druck können beispielsweise die Lungenbläschen – Alveolen genannt – Schaden nehmen.

Der Mangel bringt die Medizin in ein Dilemma: In schwer betroffenen Ländern wie beispielsweise Italien stehen teilweise zu wenige Beatmungsgeräte für die Vielzahl von Patientinnen und Patienten zur Verfügung. Ärztinnen und Ärzte müssen dann entscheiden, wer beatmet wird und wer sterben muss. Rufe nach der raschen Herstellung von mehr Beatmungsgeräten werden laut. Wissenschaft und Industrie arbeiten daher an Methoden, Komponenten für Beatmungsgeräte mit 3D-Druckern zu fertigen oder andere Geräte umzufunktionieren. Sogar Autohersteller denken über die Produktion von Beatmungsgeräten nach. Prof. Dr. Christoph Rußmann sieht das kritisch. „Wenn ein Beatmungsgerät aussetzt und ein Patient erstickt, ist das etwas anderes, als wenn mein Auto morgens nicht anspringt. Daher wird in der Medizintechnik sowohl die Entwicklung als auch die Fertigung und Inbetriebnahme streng reguliert.“ In der aktuellen Krisensituation könne man in dieser Hinsicht sicher ein paar Abstriche machen. „Aber ganz davon absehen sollte man nicht.” Er plädiert dafür, spezialisierte Hersteller und geeignete Zulieferer zu stärken, um die Produktion von Beatmungsgeräten hochzufahren. „Natürlich können Firmen, die freie Kapazitäten haben, Teile aus dem 3D-Druck oder Leiterplatten für Medizintechnik zuliefern. Aber das muss entsprechend koordiniert werden.”

Auch Apps rund um das Coronavirus beschäftigen Mediziningenieurinnen und -ingenieure, Medizininformatikerinnen und -informatiker weltweit. In einigen asiatischen Ländern werden bereits Tracking-Apps genutzt, um Kontaktpersonen von Corona-Infizierten aufzuspüren. Auch in Deutschland ist so eine App im Gespräch. Bereits verfügbar ist eine Applikation des Robert Koch Instituts (RKI), mit der Besitzerinnen und Besitzer von Smartwatches und Fitnessarmbändern Daten über Puls, Aktivität und Schlafverhalten spenden können. Das RKI erhofft sich so Erkenntnisse über die Verbreitung des Virus in Deutschland. Prof. Dr. Christoph Rußmann sieht in solchen Anwendungen einen sinnvollen Beitrag, solange Grenzen des Datenschutzes nicht überschritten würden. Auch wenn die Daten von Tracking-Apps nicht zu einhundert Prozent zuverlässig seien, könne die Technologie dabei helfen, die Verbreitung des Virus einzudämmen.
Wichtig sei, dass medizinische Apps auch wie Medizinprodukte reguliert würden. Zum Beispiel dann, wenn mobile Anwendungen einen Beitrag zur Diagnose versprechen. „Man sollte bei diesen Apps generell vorsichtig sein, denn oft fliegen sie noch unter dem Radar der Zulassungsbehörden“, mahnt Rußmann. Das soll die neue EU-Verordnung Medical Device Regulation ändern.

Langfristig hofft er, dass die Corona-Krise auch in Bezug auf Medizintechnik zu einem Umdenken führt. „Man sieht, dass lange Zeit nicht nur an Pflegepersonal, sondern auch im Bereich der Medizintechnik gespart wurde. Das tritt besonders in Ländern wie Italien, Spanien oder den USA zutage, wo es jetzt an Beatmungsgeräten fehlt.” Nun werde deutlich, dass man sich dieses Sparen nicht mehr erlauben könne, so Rußmann „Für eine solche Krise müssen Kliniken auch technisch besser ausgestattet werden.”