Erscheinungsdatum: 17.08.2012

Master-Arbeit der HAWK-Fakultät Bauwesen stellt fiktives Mehrgenerationenhaus an der Lilie in Hildesheim vor

Master-Arbeit der HAWK-Fakultät Bauwesen stellt fiktives Mehrgenerationenhaus an der Lilie in Hildesheim vor

Grellgrau ist keine Farbe – sondern in diesem Fall eine Zukunftsvision. Grellgrau, so nennt sich ein Architektur-Entwurf, der Antworten auf die Frage geben möchte: „Wie und wo möchten die jungen Menschen von heute wohnen, wenn sie alt sind?“ Damit haben sich die beiden HAWK-Absolventinnen Cornelia Haggenmiller und Lena Scheppmann in ihrer Master-Thesis auseinander gesetzt. Vor der Entwurfsarbeit für ein fiktives Mehrgenerationenhaus am Platz an der Lilie in Hildesheim haben sich die beiden frisch ernannten Ingenieurinnen allerdings nicht ausschließlich mit Tragwerkslehre, Statik oder Fassadengestaltung beschäftigt. Sondern zuerst mit Sozialwissenschaft, Psychologie und Philosophie – um zu verstehen, was es überhaupt bedeutet, alt zu sein.

„Es ist eine interdisziplinäre Auseinandersetzung, in der Architektinnen Konzepte suchen, nachdem sie das Thema ausgiebig analysiert und evaluiert haben. In dieser Master-Arbeit wurde also geforscht – allerdings anders, als Ingenieure oder Naturwissenschaftler gemeinhin vorgehen. Hier leitet sich der Entwurf von der wissenschaftlichen Ausarbeitung ab“, führt HAWK-Prof. Bernd Sammann in die Präsentation in der Alten Pathologie am Weinberg ein.

Haggenmiller und Scheppmann stellen zur Einleitung ihre Thesen vor. „Die neuen Alten stehen neuen Wohnformen offen gegenüber“, heißt es. Und weiter: „Weder Stadt noch Familienbande können und wollen die Alten tragen. Darum müssen die neuen Alten selbst die Initiative ergreifen.“ Die klassischen Altenheime – sie hätten ausgedient. Sie würden ersetzt durch Alten-Wohngemeinschaften und Mehrgenerationenhäuser. Als Standort käme nur die Innenstadt in Frage. Doch die ist schon heute zum größten Teil zugebaut.

Mit zahlreichen Weisheiten wie „alle möchten alt werden, aber niemand möchte alt sein“ oder „die Kunst besteht darin, jung zu sterben, aber so spät wie möglich“ untermalen die beiden Absolventinnen ihre Gedankengänge. Die führten sie zu der Erkenntnis, dass sich bei den neuen Alten eine neue Freiheit zeigt. Gefordert wird eine kulturelle Wende, nach der alte Menschen sich sozial stärker vernetzen müssen, um weg zu kommen vom „Opa, der stets nach Beschäftigung suchen muss“. Altern verlange einfach mehr persönliche Leistung.

Auch der Begriff „Heimat“ dürfe fortan nicht mehr geografisch gedacht werden, sondern anthropologisch. Man dürfe sich später nicht an Gegenstände klammern, sondern an Gefühle. „Weiter wohnen wie gewohnt“ ist von gestern – in der Zukunft würden vielmehr biologische, psychologische und soziale Komponenten die Wahl der Heimat bestimmen. Damit würde sich selbstverständlich auch die Architektur zwangsläufig ändern müssen.

„Wir gehen davon aus, dass unsere Generation nichts mehr erben wird – vielmehr wird das Leben geprägt sein vom Umziehen“, resümieren die Ingenieurinnen. Entsprechend fällt ihr Entwurf aus. Die sogenannte Parasit-Architektur – es wird an bestehende Gebäude angebaut, weil es an freiem Platz mangelt – basiert auf vier Komponenten: einer dicken Mauer, vor der Kuben zu schweben scheinen. Dahinter liegt ein Laubengang. Unten dominiert eine Glashalle. Prägend sind ineinander verzweigte Stahlstäbe vor der Fassade, die die dynamischen und spontanen Vernetzungen innerhalb des Gebäudes versinnbildlichen sollen. Der Materialmix zeigt Beton, Estrich, Glas und Stahl. Hier gibt es keine eigenen Wohnzimmer mehr. Vielmehr ist das Gebäude unterteilt in öffentliche, halböffentliche und private Komplexe mit fließenden Grenzen unterteilt. Die für alle zugänglichen Gemeinschaftsräume und Aktiv-Bereiche führen in die Küchen als Pufferzone, von dort aus in halböffentliche Loggien bis hin ins persönliche, private Schlafgemach.

Marc Fesca, Prokurist der Arbeiterwohlfahrt (AWO), zeigt sich am Ende des Vortrags begeistert: „Eine exzellente Arbeit. Ich wünschte mir solche Forschungen auch verstärkt im Arbeitsfeld Sozialwesen. Denn dieser Entwurf spiegelt meiner Erfahrung nach die Realität genau wieder. In unseren Einrichtungen für alte Menschen zeigt sich genau dieses Bild. Die Türen der Klienten stehen den größten Teil des Tages offen, die Menschen treffen sich in den offenen Bereichen. Ich kann bei diesem Entwurf der Behauptung, Architektur wäre der Klebestoff der sozialen Strukturen, nur zustimmen.“

Die Gebäudeeinheiten werden überirdisch an einer Betonmauer aufgehängt Die Gebäudeeinheiten werden überirdisch an einer  Betonmauer aufgehängt