HAWK-Lehrbeauftragter Björn von Lindeiner über offene Jugendarbeit in der Corona-Krise

Publizierungsdatum: 28.05.2020

Björn von Lindeiner ist Lehrbeauftragter an der HAWK-Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit und arbeitet als Sozialpädagoge im Bereich Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit der Stadt Hildesheim. Im Interview erklärt er, was jungen Menschen momentan besonders fehlt, wie die offene Kinder- und Jugendarbeit von der Corona-Krise betroffen ist und welche Risiken dadurch entstehen.

Wie geht es Kindern und Jugendlichen in der Corona-Krise?

Ich habe für das Projekt „Jugend wählt“ Jugendliche auf der Straße aufgesucht und genau zu dieser Fragestellung interviewt. Interessant ist, dass ganz viele Jugendliche und auch jüngere Kinder vor allen Dingen die Frage der Schule umtreibt. Es ist sehr auffällig, wie unterschiedlich da die Unterstützung zu Hause ist, wie unterschiedlich Kinder mit technischen Möglichkeiten ausgestattet sind und wie unterschiedlich Schulen dieses Problem angehen.

 

Viele von ihnen haben sich gewünscht, wieder in die Schule gehen zu dürfen. Und gerade die älteren, die jetzt auf Prüfungen zugehen, machen sich viele Sorgen, weil das jetzt natürlich eine sehr spezielle Situation ist. Gerade auch für bildungsbenachteiligte Jugendliche, die vielleicht noch nie eine mündliche Prüfung abgelegt haben und das jetzt noch unter verschärften Corona-Bedingungen machen müssen.
Was den privaten Bereich angeht, nutzen viele die Zeit, um viel mit der Familie zu machen
oder sich auch mit einem Freund zu treffen und mit Abstand bei schönem Wetter in den Park zu gehen. Anfangs haben sie auch die Zeit genutzt, um mal ordentlich zu zocken. Aber das ist auch eine spannende pädagogische Erfahrung, dass es ihnen dann irgendwann auch zu langweilig geworden ist. So reizvoll sind Computerspiele dann anscheinend doch nicht.

 

Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit, zum Beispiel Jugendzentren, mussten wegen der Corona-Krise schließen. Wie betrifft das die jungen Menschen?

Die offene Kinder- und Jugendarbeit hat im ersten Schritt natürlich den Auftrag, Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche anzubieten: Fußball, Kochen, Erlebnispädagogik, Computerangebote. Und viele Jugendeinrichtungen bieten ergänzend dazu auch Beratungsangebote, Einzelfallhilfe und auch Unterstützung in der Schule und im Übergang von der Schule in den Beruf. Das ist natürlich jetzt für die Jugendlichen, zusätzlich zu dem Schulkontext, ebenfalls weggebrochen.
Viele Jugendliche nutzen als erste Hilfestellung, wenn sie mit irgendwas nicht klarkommen, ihr Jugendzentrum. Diese Chance ist ihnen jetzt genommen. Wobei aber viele Jugendzentren es zumindest geschafft haben, über Telefon erst einmal Kontakt zu halten.
Die Möglichkeit für Onlineangebote scheitert leider ein wenig an der digitalen Infrastruktur, sowohl in den Einrichtungen als auch bei den Kindern und Jugendlichen, die es vor allen Dingen nötig hätten. Aber da wird sich hoffentlich in diesen Zeiten einiges tun.
Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Jugendzentren sind aber auch nach draußen gegangen und haben zum Beispiel Rallyes oder Schnitzeljagden organisiert, die die Jugendlichen in Zweier-Teams machen konnten. Und mehrere Jugendeinrichtungen haben auch Telefonangebote, sodass den Jugendlichen klar ist: Zu dieser Zeit ist da ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin, den oder die kann ich telefonisch erreichen, wenn ich irgendeine Sorge oder ein Problem habe.

 

Wie sehr leiden Kinder und Jugendliche unter diesen Einschränkungen?

Das kann ich pauschal nicht beantworten. Ich glaube tatsächlich, dass aufgrund der relativ kurzen Zeit, in der wir ja auch nicht einen totalen Lockdown hatten, für Kinder und Jugendliche im Jugendzentrumsalter keine gravierenden Folgeerscheinungen entstehen werden. Jugendzentren haben ja auch in den Sommerferien mal drei Wochen zu oder wegen Krankheit fällt eine Zeit lang etwas aus.
Aber natürlich ist es so, dass mit den Jugendzentren auch ein weiterer Treffpunkt weggefallen ist. Es gibt Jugendliche, die sind Stammklientel in so einem Jugendzentrum. Das ist deren zweite Heimat. Aber damit sind die Jugendlichen, mit denen ich gesprochen habe, auch ganz gut umgegangen. Wäre in dieser Zeit noch richtig schlechtes Wetter gewesen und keiner hätte rausgehen können, ich glaube, dann werden die Folgen gravierender gewesen.
Ich sehe vor allen Dingen das große Risiko, dass viele Dinge, die gesehen werden müssten, Stichwort Kindeswohlgefährdung, in diesen Zeiten jetzt nicht mehr so gut beobachtet sind.
Die Jugendzentren sollen schon ein Auge darauf haben, wie Kinder zu Hause behandelt werden. Und es gibt durchaus Stimmen aus der Wissenschaft, die sagen, die Zahl der Kindesmisshandlungen und der häuslichen Gewalt steigt im Corona-Shutdown. Gleichzeitig haben wir aber auch weniger Möglichkeiten, das zu kontrollieren.
Das betrifft natürlich das Jugendamt auch sehr, gerade die Leute, die in der Familienhilfe tätig sind. Auch Arztbesuche, bei denen sonst oft Kindeswohlgefährdung erkannt wird, haben jetzt weniger stattgefunden. Aber ganz grundsätzlich ist es so, dass die die Schere, die wir in der Bildung und auch im finanziellen Status haben, durch Corona natürlich sehr deutlich wird. Die Familien, die einen guten Bildungshintergrund haben, wo die Eltern nicht so oft von Kurzarbeit betroffen sind, die Homeoffice machen können, wo die Kinder ausreichend Ausstattung und technische Geräte haben, die gehen eigentlich ganz gut damit um.
Aber die, die finanziell und bildungsbezogen benachteiligt sind, fallen natürlich ziemlich hinten runter, weil sie für viele Dinge viel mehr Unterstützung bräuchten, als sie jetzt gerade bekommen können.

 

Bei den Diskussionen über Angebote für Kinder und Jugendliche waren sehr oft Kitas, Schulen und auch Spielplätze im Gespräch, aber selten Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit.

Vielen ist nicht klar, wie wichtig diese Arbeit ist. Ein ähnliches Problem haben wir auch mit Schulersatzmaßnahmen und dem Nachholen von Schulabschlüssen. Das wurde alles scheinbar nicht wirklich mitbedacht. Weil erst einmal geguckt wird, ob die Schülerinnen und Schüler ihr Abitur und ihren Schulabschluss machen können. Über Grundschul- und Krippenkinder haben wir als allerletztes gesprochen und die sind ja in dieser Krise eigentlich die akut Gefährdeten. Ich hoffe, dass wir es durch die Krise hinbekommen, dass der Blick auch mal auf andere sehr wichtige Institutionen gerichtet wird.