HAWK-Wissenschaftler/innen sehen Chancen durch Videotherapie

Publizierungsdatum: 13.01.2021

Die Coronavirus-Pandemie hat im vergangenen Jahr auch die Arbeit von Logopäd/inn/en und Sprachtherapeut/inn/en von heute auf morgen verändert. Therapiestunden konnten nicht mehr in Präsenz stattfinden. Durch eine Ausnahmegenehmigung der Krankenkassenverbände durften zum Beispiel logopädische Praxen erstmals Sprach-, Sprech- und Stimmtherapie mittels Videotherapie durchführen.

Das Team des HAWK-Forschungsprojektes „ViTaL“ (Videotherapie in der ambulanten logopädischen/sprachtherapeutischen Versorgung) hat untersucht, wie Logopäd/inn/en und Sprachtherapeut/inn/en in dieser Zeit Videotherapie einsetzten, welche Schwierigkeiten dabei auftraten und wo sich aus der Videotherapie Chancen ergeben. Erste Ergebnisse zeigen, dass die Videotherapie zukünftig in der Logopädie/Sprachtherapie eine größere Rolle spielen könnte.

 

Für das Projekt ViTaL kooperierten Forscher/innen der HAWK-Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit in Hildesheim und der Fakultät Ingenieurwissenschaften und Gesundheit in Göttingen mit dem Deutschen Bundesverband für Logopädie e.V. (dbl). Neben einem systematischen Review, also einer Analyse und Zusammenfassung aller bereits verfügbaren Studien zum Thema, führten die Wissenschaftler/innen eine Online-Befragung unter Logopäd/inn/en und Sprachtherapeut/inn/en durch, an der über 800 Personen teilnahmen. Außerdem analysierten sie Aufzeichnungen von Videotherapie-Sitzungen.

Die Ergebnisse der Befragung zeigen, dass sich Logopäd/inn/en und Sprachtherapeut/inn/en den Einsatz von Videotherapie bei verschiedenen logopädischen Störungsbildern durchaus vorstellen können. 87 Prozent der Befragten hatten bereits Videotherapie genutzt. „Die meisten Therapien wurden als Einzeltherapie durchgeführt. Das heißt, die Logopädinnen und Logopäden, die befragt wurden, haben angegeben, dass die Patientinnen und Patienten entweder zur Therapie via Video zugeschaltet wurden oder zur Beratung“, berichtet Silke Schwinn, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HAWK-Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit. „Ganz vereinzelt haben auch Gruppentherapien oder Gruppenberatungen stattgefunden.“

Dabei hätten die Therapeut/inn/en nicht nur Methoden aus der Präsenztherapie angewendet, sondern die Möglichkeiten der Videotherapie auch kreativ genutzt. So seien zum Beispiel mehrere Kameras zur Beobachtung der Patient/inn/en zum Einsatz gekommen oder die Angehörigen seien im häuslichen Umfeld in die Therapie mit einbezogen worden. Als Vorteile der Videotherapie nannten die Befragten vor allem gesundheitli¬chen Schutz, eine Erweiterung des The¬rapieangebots und den Wegfall des Fahrtwegs. Allerdings sahen sie auch Einschränkungen bei der Anwendung. So gab ein großer Teil der befragten Therapeut/inn/en an, Videotherapie bei hochgradiger Schwerhörigkeit und Taubheit oder bei Schluckstörungen nicht anwenden zu wollen.

Trotzdem zeige sich unter den Fachkräften eine große Aufgeschlossenheit gegenüber digitalen Technologien und damit ein großes Potenzial, das auch nach der Coronakrise genutzt werden sollte, betont Dr. Bernhard Borgetto, Professor für Gesundheitsförderung und Prävention an der HAWK-Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit. „Es wird sicherlich Einsatzmöglichkeiten geben, zum Beispiel im ländlichen Raum, wenn die Versorgungsstrukturen nicht besonders gut sind oder wenn ein Fachkräftemangel herrscht. Dann könnte man auch auf die Videotherapie zurückgreifen“ Dass Videotherapie die Face-to-Face-Therapie ersetzt, werde aber wahrscheinlich eine Ausnahme bleiben. Stattdessen werde „Blended Therapy“ eine größere Rolle einnehmen, so Borgetto. „Die Präsenztherapie wird also durch Videotherapieeinheiten und -ansätze ergänzt.“ Dr. Juliane Leinweber, Professorin für Therapiewissenschaften am Gesundheitscampus Göttingen, einem Kooperationsprojekt der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) und der HAWK, sieht auch über die Videotherapie hinaus viele Möglichkeiten der Digitalisierung in der Logopädie/Sprachtherapie. „Wir sollten nicht nur über Videobehandlung sprechen, sondern auch über andere Möglichkeiten der digitalen Versorgung. Also wie können wir zum Beispiel Apps in die Videotherapie sinnvoll integrieren?“

Insgesamt sei deutlich geworden, dass es auch im Bereich der Logopädie/Sprachtherapie einen großen Nachholbedarf in der Digitalisierung gebe, fasst Borgetto zusammen. „Von der Netzabdeckung bis hin zu den digitalen Gesundheitsanwendungen, die es braucht, haben wir im Vergleich zum Ausland einfach zu wenig.“ Durch die Coronakrise habe es zwar einen ersten Digitalisierungsschub gegeben. „Aber der eigentliche Schub muss erst kommen, es muss eine Kompetenzentwicklung stattfinden und es müssen die technischen Möglichkeiten weiterentwickelt werden“, so Borgetto.

In den kommenden Monaten will das Team vom Projekt „ViTaL“ Handlungsempfehlungen zur Videotherapie für Kolleg/inn/en aus der Praxis veröffentlichen. Aber es sind auch noch weitere Forschungsvorhaben geplant. In einem Folgeprojekt wollen die Wissenschaftler/innen Herausforderungen und Potenziale für digitale Innovationen in der Logopädie/Sprachtherapie untersuchen. „Es stellt sich die große Frage: Wie ist die Perspektive von Patientinnen und Patienten und auch deren Angehörigen auf Videotherapie?“, erklärt Maria Barthel, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HAWK-Fakultät Ingenieurwissenschaften und Gesundheit. Darum wolle das Team im Folgeprojekt die Perspektive aller Beteiligten beleuchten. Außerdem sollen zukünftig auch die Möglichkeiten der interdisziplinären Nutzung von Videotherapie näher untersucht werden.