HAWK-Team berichtet über „Perspektiven für den Wirtschaftsstandort Dorf“

Erscheinungsdatum: 19.01.2021

In Dörfern finden sich viel mehr Unternehmen als auf den ersten Blick sichtbar ist. Wichtigstes Standortmerkmal ist eine verlässliche Internetverbindung. Und: Die befragten Unternehmen haben die Standortqualität des Dorfs überwiegend positiv bewertet, wozu besonders auch etwa die Attraktivität von Dorf und Landschaft beitragen. Das sind nur zwei Ergebnisse des Forschungsprojektes eines interdisziplinären Teams der Göttinger HAWK-Fakultät Ressourcenmanagement unter Leitung von Prof. Dr. Ulrich Harteisen.

Für welche Unternehmen und Branchen können Dörfer ein attraktiver Standort sein und welche Rahmenbedingungen sind erforderlich, um vorhandene Unternehmen in ihrer Entwicklung zu fördern und Gründungen zu unterstützen? Das war die Leitfrage des Projektes. Als Untersuchungsgemeinden wurden drei unterschiedliche ländliche Kommunen aus Südniedersachsen mit insgesamt neunzehn Dörfern aller Größen ausgewählt: der Flecken Bovenden im Landkreis Göttingen vor den Toren des Oberzentrums Göttingen, die etwas weniger zentral gelegene Gemeinde Katlenburg-Lindau im Landkreis Northeim und der deutlich peripherer gelegene Flecken Bevern im Landkreis Holzminden.

 

Das Forschungsvorhaben mit dem Titel „Perspektiven für den Wirtschaftsstandort Dorf: Eine sozial-empirische Untersuchung von drei Gemeinden in Südniedersachsen (WiStaDo)“ war Bestandteil des Südniedersachsenprogramms des Landes Niedersachsen und wurde vom Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) der Europäischen Union in Kombination mit Mitteln des Landes Niedersachsen gefördert.

Der demographische, wirtschafts- und sozialstrukturelle Wandel hat dazu beigetragen, dass Dörfer immer weniger Arbeits- und Wirtschaftsstandorte sind oder zumindest nicht als solche wahrgenommen werden. In aktuellen Forschungsvorhaben zur ländlichen Wirtschaft fehlte allerdings bisher eine spezifische Analyse des Wirtschaftsstandorts Dorfs. Diese Forschungslücke zu schließen, war Ziel des Vorhabens.

Das konkrete Forschungsdesign des Projekts war dreistufig. In einem ersten Arbeitsschritt wurden die noch vorhandenen Wirtschaftsstrukturen in den Dörfern der ausgewählten Gemeinden vollständig erfasst, da aktuelle Statistiken keinen vollständigen Überblick über die wirtschaftlichen Aktivitäten in den Dörfern lieferten.

Es folgte eine Analyse der Rahmenbedingungen. Diese wurden durch mehr als 50 qualitative Interviews mit Unternehmen sowie Rahmenakteuren und durch eine breit angelegte quantitative Befragung der recherchierten Unternehmen mit einer erfreulich hohen Rücklaufquote von 36 Prozent erforscht.

Die Rechercheergebnisse zeigten eine vielfältige Wirtschaftsstruktur am Wirtschaftsstandort Dorf. Von den 676 zum Erhebungszeitpunkt 2017 mit großer Wahrscheinlichkeit existierenden Unternehmen gehörten immerhin noch 14 Prozent zum primären, 22 Prozent zum sekundären und fast zwei Drittel zum tertiären Sektor. Damit ist der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft sehr weit fortgeschritten. Der sogenannte primäre Sektor bezeichnet dabei die Gewinnung von Rohstoffen, wie zum Beispiel Land- und Forstwirtschaft. Der sekundäre Sektor befasst sich mit der Verarbeitung dieser und der tertiäre Sektor umfasst alle Dienstleistungen.

„Bemerkenswert ist, dass alle Dörfer, unabhängig von ihrer Größe, relativ viele Unternehmen aufweisen. Ein erstaunliches Phänomen war, wie viele davon nicht unmittelbar sichtbar sind, weder visuell, zum Beispiel durch Schilder, noch digital, also durch eine Homepage“ sagt Dr. Tobias Behnen.  Bei der Unternehmensgröße gibt es einen ganz klaren Schwerpunkt bei Kleinstunternehmen (1-9 Beschäftigte) und Kleinunternehmen (10-49 Beschäftigte). Viele sind Solo-Selbstständige, mittelgroße Unternehmen (50-249 Beschäftigte) hingegen sind selten, noch größere gar nicht vorhanden. Bemerkenswert ist die Standorttreue von Unternehmen jeder Größe: Über zwei Drittel sind seit mindestens zehn Jahren am heutigen Standort.

Die befragten Unternehmen haben die Standortqualität des Dorfs überwiegend positiv bewertet, wozu besonders auch die weichen Standortmerkmale, wie etwa die Attraktivität von Dorf und Landschaft, beitragen. Wichtigstes Standortmerkmal ist eine verlässliche Internetverbindung. Handlungsbedarf sehen die Unternehmen insbesondere bei der Verfügbarkeit und Qualifikation von Arbeitskräften. Diese kommen im Durchschnitt mehrheitlich aus der Gemeinde, in dem die Unternehmen ansässig sind. Nach ihren Zukunftsaussichten am Standort gefragt, äußerten sich die Unternehmen überwiegend nicht negativ: 35 Prozent erwarten für die nächsten fünf Jahre ein Wachstum, 46 Prozent eine stabile Unternehmensentwicklung.

Im Rahmen der Untersuchung konnten auch die Vernetzungsstrukturen der Unternehmen ermittelt werden. Bürgermeister und die Gemeindeverwaltungen, aber auch die Hausbanken, sind die wichtigsten Ansprechpartner, wenn es um Fragen der Unternehmensentwicklung geht.
Die lokale Verankerung der Unternehmen ist gut. Etwa drei Viertel der Unternehmerinnen und Unternehmer wohnen in dem Dorf, in dem auch das Unternehmen ansässig ist. Je kleiner das Unternehmen ist, desto größer ist die Nähe zwischen Arbeits- und Wohnort. Nicht selten wird die wirtschaftliche Tätigkeit in der eigenen Wohnung oder zumindest im Wohngebäude ausgeübt. Über 90 Prozent der Befragten beurteilen die Lebensqualität im Dorf als gut oder eher gut. Die räumliche und soziale Verbundenheit mit dem Dorf trägt auch wesentlich dazu bei, dass sich die Unternehmerinnen und Unternehmer, zum Beispiel durch Spenden oder auch als Privatperson, etwa in Vereinen, engagieren. Konflikte mit den Nachbarn gibt es, sie sind aber selten. Weit überwiegend wird Wirtschaft im Dorf als Teil des Dorflebens akzeptiert.

Neben Initialmaßnahmen für die im Projekt beteiligten Gemeinden wurden drei übertragbare Handlungsempfehlungen zur Entwicklung des Wirtschaftsstandortes Dorf abgeleitet:

  1. Entwicklung eines Standortmarketings, welches das Dorf als Wohnort und Wirtschaftsstandort für Unternehmerinnen und Unternehmer vorstellt.
  2. Aufbau von Strukturen einer lokalen Wirtschaftsförderung auf Gemeindeebene und die noch bessere Einbindung in regionale Netzwerke sowie die Nutzung von regionalen Beratungsangeboten.
  3. Aktive Flächenentwicklung des Wirtschaftsstandorts Dorf, indem Mischgebiete im Dorf gezielt auch weiterhin ausgewiesen werden.

Im Ergebnis wird das Dorf nicht nur als vitaler und attraktiver Wirtschaftsstandort empfunden, sondern es ist für die große Mehrheit der Unternehmerinnen und Unternehmer auch ein bevorzugter Wohn- und Lebensraum. Mit den dortigen Bürgermeistern und Gemeindeverwaltungen wurde im Projekt sehr eng kooperiert. Ein Projektbeirat mit Vertretern der regionalen Wirtschaftsförderung und der Kammern wirkte unterstützend.

Der Forschungsbericht wurde nun als Band 2 der ZZHH-Berichte, einer Publikationsreihe des Zukunftszentrums Holzminden-Höxter, veröffentlicht.